Um gleich einzusteigen: Was beinhaltet die Frage nach dem guten Leben?
Die Frage "Was ist ein gutes Leben?" wird im Alltag häufig mit der Frage, wie man leben sollte in Verbindung gebracht. Meist wird sie von einer bestimmten Person in einer konkreten Lebenssituation gestellt, bezieht sich jedoch auf die gesamte Lebensspanne dieser Person. (1) "Du sollst das Leben geniessen!", "Du sollst eine Familie gründen" oder ähnliche auffordernden Sätze, müssten entsprechend die Antwort sein. Die Philosophieprofessorin Ursula Wolf schreibt hierzu: "Solche Sätze sind aber ihrerseits auf bestimmte Aussagen bezogen, nämlich auf Wertaussagen. Wo die Frage ist, was ich tun will, besteht ein Spielraum der Wahl und der praktischen Überlegung, der in Aussagen der Form "Es ist gut, so zu handeln" zum Ausdruck kommt." (2)
Bedeutet der Satz "Du sollst das Leben geniessen" nun, dass es eine gar moralische Pflicht ist, das Leben zu geniessen? Oder ist dieses "Sollen" weniger als Verpflichtung und mehr als Empfehlung, wie etwa "es ist empfehlenswert, das Leben zu geniessen", aufzufassen? Dass letztere Lesart eher in Frage kommt, erkennt man an der Überlegung, wenn man nach dem Adressaten fragt: Schliesslich liegt ein Unterschied darin, ob gefragt wird, "wie man leben sollte" oder "wie ich leben sollte". Die unpersönliche Perspektive stellt zwar die klassische Formulierung der Frage dar. Aber ein Leben führen kann nicht ein "Wir" oder ein "Man", sondern stets nur ein Individuum. Die "Heimat" der Frage liegt daher eigentlich in der individuellen Existenz. Ursula Wolf hebt noch ein weiteres Argument hervor: "Ebenso sind Antworten auf die Frage nach dem geeigneten Wie des Lebens nicht einfach Erkenntnisse, sondern das Finden einer Antwort wird auch durch affektive [emotionale] Reaktionen wie Zufriedenheit angezeigt. Affekte aber sind ebenfalls etwas, was Individuen und nicht Gruppen haben." (3)